Selbstleseverfahren versus Urkundenverlesung - Das Ende der Urkundenverlesung in der Hauptverhandlung?

Dass in der Hauptverhandlung in Strafsachen die Beweisaufnahme stattfindet und das Gericht sein Urteil nur auf Umstände stützen darf die sich aus dieser ergeben, dürfte zumindest den Juristen unter den Lesern bekannt sein.

 

Ebenfalls bekannt sein dürfte der Umstand, dass Urkunden, also z.B. Verträge, TKÜ-Protokolle, Ausrucke von E-Mails, Briefe, Rechnungen o.Ä. durch das Verlesen dieser in der Hauptverhandlung eingeführt werden. Geregelt ist dies in § 249 Abs. 1 StPO.

 

Da das Verlesen sämtlicher relevanter Urkunden, z.B. in Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren regelmäßig sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, hat der Gesetzgeber das sogenannte Selbstleseverfahren in die Strafprozessordnung aufgenommen. Damit ist es, außer in Fällen der §§ 253, 254 StPO, möglich von der Verlesung in der Hauptverhandlung abzusehen.

 

Praktisch läuft dies dergestalt ab, dass der Vorsitzende ankündigt, bestimmte Urkunden im Selbstleseverfahren einführen zu wollen. Nachdem den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, ergeht sodann eine Anordnung des Selbstleseverfahrens durch den Vorsitzenden. Die meisten Gerichte stellen die im Selbstleseverfahren einzuführenden Urkunden für die Verfahrensbeteiligten -u.U. in Kopie- zusammen und händigen diese an diese aus. Je nach Umfang der so einzuführenden Urkunden wird den Beteiligten eine angemessene Zeit zur Kenntnisnahme einzuräumen sein. Nach Ablauf dieser Zeit wird festgestellt, dass Richter und Schöffen im Inhalt der Urkunden Kenntnis genommen haben und die weiteren Beteiligten Gelegenheit dazu hatten. Verfahrensrechtlich gelten diese Urkunden damit als eingeführt und können bei der Urteilsfindung und -begründung so berücksichtigt werden, als wären sie verlesen worden.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes - eine revisionsrechtliche Perspektive

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat mit Beschluss vom 11.11.2020 - 5 StR 197/20 entschieden, dass ein Urteil auf dem Verfahrensfehler des Nichtbescheidens eines Widerspruchs gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens regelmäßig nicht beruhen kann (Leitsatz). Der Senat gibt damit seine Rechtsprechung auf und schließt sich einer -durchaus starken- Ansicht in der Literatur (MüKo-StPO/Kreicker, § 249 Rn. 82; LR-StPO/Mosbacher, 27. Aufl., § 249 Rn. 111; ders., NStZ 2013, 199, 201) an.

 

Zur besseren Einordnung das Folgende:

 

In § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO ist explizit der Widerspruch von Staatsanwaltschaft und/oder des Angeklagten und des Verteidigers gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens geregelt. Demnach entscheidet bei Widerspruch eines Verfahrensbeteiligten gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens "das Gericht" was soviel bedeutet wie dass der Strafrichter, das Schöffengericht, die Kammer oder der Senat einen Beschluss über den Widerspruch fassen müssen. Geschieht dies nicht, liegt ein Verfahrensverstoß vor, der grundsätzlich mit der Revision gerügt werden kann (vgl. nur: BGH, Beschluss vom 28.08.2012 - 5 StR 251/12, hier zitiert nach bundesgerichtshof.de, dort Rn. 9).

 

Soweit so gut. Notwendig für eine, mit der Verfahrensrüge erfolgreiche Revision ist jedoch nicht nur, dass ein Verfahrensverstoß vorliegt, sondern auch, dass das Urteil auf diesem Verstoß beruht.  Dies ist immer dann der Fall, wenn nicht auszuschließen ist, dass das Gericht bei Nichtvorliegen dieses Verfahrensverstoßes anders entschieden hätte. In vielen Fällen wird dieses Beruhen sogar vermutet, so dass im Rahmen einer Revisionsbegründung dazu nichts oder nicht sehr viel vorgetragen werden muss.

 

Anders liegt der Fall hier. Fasst das Gericht auf den Widerspruch eines Verfahrensbeteiligten gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens überhaupt keinen Beschluss und kommt es gleichwohl zur Durchführung des Selbstleseverfahrens, kann das Urteil nach Ansicht des 5. Strafsenats (s.o.) auf diesem Umstand regelmäßig nicht beruhen.

 

Der Beschluss ist umfangreich begründet, so dass eine umfassende Darstellung hier unterbleibt. Kernargument der Entscheidung ist jedoch, dass die Verlesung von Urkunden und das Selbstleseverfahren gleichwertige Alternativen seien und deshalb die Verlesung von Urkunden gegenüber dem Selbstleseverfahren nicht vorzugswürdig sei (BGH, Beschluss vom 11.11.2020 - 5 StR 197/20, hier zitiert nach bundesgerichtshof.de, dort Rn. 6ff.).

Das Problem

Die vom 5. Strafsenat vertretene Ansicht vermag durchaus zu überzeugen. Sie scheint aber die tägliche Praxis an den Strafgerichten zu übersehen bzw. zumindest nicht in den Fokus genommen zu haben.

 

In der Praxis der Gerichte hat das Selbstleseverfahren, insbesondere für den Angeklagten, potentiell einige Nachteile.

 

So findet das Selbstleseverfahren "im stillen Kämmerlein" statt. Dass bedeutet z.B. dass Reaktionen auf den Inhalt der Urkunden beim jeweiligen Leser für die anderen Verfahrensbeteiligten nicht erkennbar sind. Dies kann z.B. eine emotionale Reaktion des Angeklagten bei Verlesung eines TKÜ-Protokolls sein oder aber auch der gelangweilte Gesichtsausdruck des beisitzenden Richters. Ein gemeinsames "Gefühl für die Sache" stellt sich im Rahmen des Selbstleseverfahrens nicht ein. Weiter ist nicht kontrollierbar, ob die Richter und Schöffen tatsächlich Kenntnis von den im Selbstleseverfahren eingeführten Urkunden genommen haben. Damit besteht insbesondere bei den Schöffen die Gefahr, dass diese, da sie anders als die Berufsrichter die Akten nicht kennen, ohne Kenntnis wesentlicher Urkunden entscheiden. Letztlich sind auch kurzfristige Stellungnahmen zu einzelnen Urkunden oder Passagen im Selbstleseverfahren erheblich erschwert und weniger effektiv, da das Lesen ja außerhalb der Hauptverhandlung und ohne die anderen Verfahrensbeteiligten geschieht und so spontane Gedanken festgehalten und -teilweise- Wochen später wieder aufgegriffen werden müssen. Selbst dann ist -bei umfangreichen Selbstleseverfahren- nicht klar, ob die Verfahrensbeteiligten gerade diese Passage überhaupt gelesen haben oder sich an sie erinnern.

 

Im Ergebnis steigert die Durchführung eines Selbstleseverfahrens immer auch das abstrakte Risiko eines Fehlurteils wenngleich es in einigen Verfahrenskonstellationen nicht zu vermeiden sein wird ein Solches durchzuführen.

 

Abschließend sei der Vollständigkeit halber auch darauf hingewiesen, dass der hier gegenständliche Beschluss natürlich nicht "das Ende der Urkundenverlesung" und schon gar nicht "das Ende des Rechtsstaats" darstellt. Die vorgestellte Entscheidung verringert zwar die Hürden für die Durchführung von Selbstleseverfahren noch weiter, befasst sich aber letztlich nur mit den Fällen in denen -nur- der formelle Verfahrensfehler der Nichtbescheidung des Widerspruchs gemacht wurde. Fälle in denen das Selbstleseverfahren selbst fehlerhaft durchgeführt wurde, betrifft sie nicht.

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