
Auf diesem Blog wurde schon des Öfteren über Insolvenzstraftaten (z.B. hier (zur Insolvenzverschleppung) oder hier (zum Bankrott) geschrieben. Auch die strafrechtliche Haftung des faktischen Geschäftsführers war bereits mehrfach Thema (z.B. hier). Im heutigen Beitrag sind die Voraussetzungen für die Annahme einer faktischen Geschäftsführung bei Insolvenzdelikten, insbesondere im Rahmen einer sogenannten "Firmenbestattung" gegenständlich. Zur Firmenbestattung und ihren vielfältigen Erscheinungsformen könnte man mehrere Beiträge verfassen, weshalb eine Darstellung - über den hier vorzustellenden Einzelfall hinaus - unterbleibt.
In seinem Urteil vom 27.02.2025 - 1 StR 287/24 (zitiert nach bundesgerichtshof.de) hat sich der fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofes mit der Frage beschäftigt, unter welchen Voraussetzungen in einem Fall der sogenannten Firmenbestattung eine faktische Geschäftsführung anzunehmen ist und dabei den Anwendungsbereich dieser Rechtsfigur nach hiesiger Ansicht deutlich erweitert.
Die faktische Geschäftsführung
Da für Unternehmen nach dem deutschen Strafrecht keine Strafen vorgesehen sind (beachte aber die Unternehmensgeldbuße gemäß § 30 OWiG), haften nach § 14 StGB die dort genannten Vertreterinnen für durch Unternehmen begangene Straftaten. Es haften dieser Regelung zu Folge zunächst die vertretungsberechtigten Organe einer juristischen Person (z.B. GmbH- oder UG-Geschäftsführer) oder die Mitglieder eines solchen Organs sowie vertretungsberechtigte Gesellschafter einer rechtsfähigen Personengesellschaft (GbR-Gesellschafter, Vereinsvorstände etc.). Auch gesetzliche Vertreter wie ein Insolvenzverwalter oder der zur Leitung eines (Teil-)Betriebes Beauftragte kann für im Unternehmen begangene Straftaten haftbar sein.
Neben den formell bestellten und, z.B. bei Kapitalgesellschaften, auch im Handelsregister eingetragenen Geschäftsführerinnen, soll nach der Rechtsprechung auch strafrechtlich verantwortlich sein, wer faktische Geschäftsführerin ist.
Faktischer Geschäftsführer ist nach der Rechtsprechung derjenige, der die Geschäftsführung mit Einverständnis der Gesellschafter ohne förmliche Bestellung faktisch übernommen hat, tatsächlich
ausübt und gegenüber dem formellen Geschäftsführer eine überragende Stellung einnimmt oder zumindest das deutliche Übergewicht hat (vgl. BGH, Urteile vom 24. Juni 1952 - 1 StR 153/52, BGHSt 3,
32, 37 f., vom 22. September 1982 - 3 StR 287/82, BGHSt 31, 118, 122, und vom 10. Mai 2000 - 3 StR 101/00, BGHSt 46, 62, 64 f.; https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/5/12/5-407-12.php).
Dabei ist für die deliktische Haftung einer Person als faktischer Geschäftsführer insbesondere erforderlich, dass der Betreffende nach den Kriterien des Bundesgerichtshofes an wesentlichen Geschäftsentscheidungen maßgeblich beteiligt und im Innenverhältnis auch zu ihnen befugt ist (z.B. BGH, Urteil vom 10.07.1996 – 3 StR 50/96 = NJW 1997, 66 [67]; für eine Übersicht der Rechtsprechung vgl. etwa Dierlamm, NStZ 1996, 153). Dazu gehört allgemein die Bestimmung der Unternehmenspolitik, die Unternehmensorganisation, die Einstellung von Mitarbeitern oder die Gestaltung der Geschäftsbeziehungen zu Vertragspartnern.
Weitere Umstände die Indizien für eine faktische Geschäftsführung sein können, sollen die Verhandlung mit Kreditgebern, eine dem Geschäftsführer entsprechende Gehaltshöhe, Entscheidungen in Steuerangelegenheiten oder die Steuerung der Buchhaltung sein.
Nach dem Gesamterscheinungsbild seines Auftretens muss feststellbar sein, dass die Geschicke der Gesellschaft – über die interne Einwirkung auf die satzungsmäßige Geschäftsführung hinaus – durch eigenes Handeln im Außenverhältnis maßgeblich in die Hand genommen wurden (BGH, Urteil vom 27.6.2005 – II ZR 113/03 = NZG 2005, 755). Für die Haftung einer solchen Person als faktischer Geschäftsführer genügt es nicht, dass diese auf den satzungsmäßigen Geschäftsführer lediglich gesellschaftsintern einwirkt. Erforderlich ist auch ein nach außen hervortretendes, üblicherweise der Geschäftsführung zuzurechnendes Handeln (BGH, Urteil vom 25.02.2002 – II ZR 196/00 = NZG 2002, 520 (522)).
Andererseits genügt das reine Handeln nach außen hin noch nicht für sich genommen für die Annahme einer faktischen Geschäftsführung. Zudem muss der faktische Geschäftsführer den gesellschaftsrechtlich bestellten Geschäftsführer gänzlich verdrängt haben oder diesem gegenüber ein erhebliches Übergewicht bzw. eine überragende Stellung in der Geschäftsführung gewonnen haben (BGH, Beschluss vom 13.12.2012 – 5 StR 407/12 = NJW 2013, 624 [625]; BGH, Urteil vom 22.09.1982 – 3 StR 287/82 = NJW 1983, 240 [241]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.1987 – 5 Ss 193/87 = NJW 1988, 3166).
Die faktische Geschäftsführung im Rahmen von Firmenbestattungen
So weit, so gut. Die genannten Kriterien wurden über Jahrzehnte entwickelt und sind - zumindest in der Rechtsprechung - auch weitgehend anerkannt. In der Leitsatz-Entscheidung vom 27.02.2025, die auch zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofes vorgesehen ist, wendet der Senat nun diese Kriterien an, weitet aber den Anwendungsbereich spürbar aus. Dem Ganzen lag - auszugsweise - der folgende Sachverhalt zugrunde:
"Der mehrfach wegen Wirtschaftsdelikten vorbestrafte Angeklagte war bereits in der Vergangenheit als „Firmenbestatter“ in Erscheinung getreten, indem er sanierungsbedürftige Betriebe in seine Verfügungsgewalt gebracht, sich das noch vorhandene Firmenvermögen rechtswidrig angeeignet und teilweise als faktischer Geschäftsführer unter Einschaltung eines geschäftsunerfahrenen Strohgeschäftsführers agiert hatte.
Zur Umsetzung der verfahrensgegenständlichen Taten verschaffte er sich ebenfalls die Kontrolle über Unternehmen in wirtschaftlicher Schieflage. Hierfür nutzte er eine Ein-Mann-GmbH bulgarischen Rechts, deren Geschäftsführer er war und die die Geschäftsanteile der Gesellschaften erwarb (Fälle II.1.1 und 1.2). Hatte die übernommene Firma Tochterunternehmen, brachte der Angeklagte diese ebenfalls unter seine Kontrolle (Fälle II.1.3 und 1.4). In weiteren Fällen ließ der Angeklagte durch eine bereits übernommene Gesellschaft weitere Gesellschaften erwerben (Fälle II.1.5 und 1.6). Im Anschluss an die Übernahme der Anteile durch eine von ihm beherrschte Gesellschaft organisierte der Angeklagte die sofortige Abberufung der alten Geschäftsführer und veranlasste die Bestellung eines neuen Geschäftsführers oder Vorstands, der jedoch die Geschäfte – wie von vornherein beabsichtigt – nicht leitete und auch nicht fortführte. Strohgeschäftsführer oder Vorstand war in allen Fällen der gesondert Verfolgte V. , der über keine gesellschaftsrechtliche Erfahrung verfügte und vom Angeklagten als Entlohnung Gefälligkeiten wie Essenseinladungen oder geringe Geldbeträge erhielt. Als vollberufstätiger Krankenpflegehelfer war V. an der Führung der Geschäfte weder interessiert noch hierzu in der Lage. Eine eigene Entscheidungskompetenz in Bezug auf die Unternehmen kam ihm – wie geplant – nicht zu. Vielmehr leistete er dem Angeklagten Blankounterschriften oder ließ sich etwa während der Einführung in die Bedienung der Finanzsoftware durch die Mitarbeiterin einer übernommenen Gesellschaft von dem Angeklagten mit dem Auftrag wegschicken, Speisen und Getränke zu besorgen. Die Handlungen des gesondert Verfolgten als Geschäftsführer waren dementsprechend rein formaler Natur; es sollte so verschleiert werden, dass der Angeklagte die Geschicke der Gesellschaften bestimmte." (BGH, aaO, Rn. 4 - 6)
Das Landgericht verneinte eine faktische Geschäftsführung des Angeklagten, da er nicht die Mehrzahl der "klassischen Merkmale" aus dem Kernbereich der Unternehmensleitung (siehe oben, z.B. Bestimmung der Unternehmenspolitik, Unternehmensorganisation, Einstellung und Entlassung von Mitarbeiterinnen, Bestimmung der Höhe der Gehälter, Verhandlungen mit Kreditgebern, Steuerung der Buchführung) erfüllt habe (BGH, aaO, Rn. 9).
Diese Begründung überzeugte den Senat nicht. Schon das vom Landgericht vorgenommene Abarbeiten einer Kriterienkataloges, welches in der Praxis leider nur allzu häufig zu beobachten ist (sowohl durch Staatsanwaltschaft und Gericht als auch durch die Verteidigung), sei verfehlt (BGH, aaO, Rn. 15). Insbesondere im zu entscheidenden Fall von Firmenbestattungen hätte die besondere Situation der Unternehmen berücksichtigt werden müssen. Da sich die Unternehmen bereits in der Krise bzw. sogar in der Abwicklung befunden hätten und damit nicht mehr werbend tätig gewesen seien, sei es "ohne Aussagekraft", dass der Anklagte keine Mitarbeiter eingestellt habe oder keine Geschäftsbeziehungen zu Vertragspartnern gestaltete (aaO).
Daher, und so lautet auch der hiesige redaktionelle Leitsatz der Entscheidung,
kann sich die Antwort auf die Frage, ob die Unternehmensleitung faktisch übernommen wurde, nur danach bemessen, in welchem Umfang der Täter im Unternehmen tatsächlich zu erledigende organtypische Aufgaben übernahm.
Festzustellen ist demnach zunächst, welche Aufgaben in dem gegenständlichen Unternehmen seiner Lage nach, ob konkret oder allgemein bleibt offen, anfielen. Dann ist der Umfang der Tätigkeit des Angeklagten gemessen daran, festzustellen und zu bewerten. So soll selbst das sonst so zentrale Kriterium der Vertretung des Unternehmens im Außenverhältnis bei Firmenbestattungen keine Voraussetzung für eine faktische Organstellung sein (aaO, Rb. 16). Hierzu führt der Senat, nach Darstellung der Rechtsprechung zu diesem Kriterium, aus:
"Die strafrechtliche Verantwortlichkeit faktischer Organe beruht nicht auf einem durch einen bestimmten Außenauftritt begründeten Rechtsschein, sondern auf der rein tatsächlichen Übernahme der Organstellung. Ob jemand die Rolle des Vertretungsorgans faktisch übernommen hat, kann nur im Rahmen einer Gesamtschau der konkreten Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaft beurteilt werden (siehe oben b), weshalb die Urteilsfeststellungen ein „Bild“ von diesen ergeben müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2013 – 1 StR 459/12 Rn. 35, wistra 2013, 272). Wenn die Gesellschaft überhaupt nur noch in geringem Maße oder gar nicht mehr am Rechtsverkehr teilnimmt, hat das Fehlen einer Vertretung nach außen nur sehr begrenzte Aussagekraft. Die für werbende Unternehmen entwickelten Kriterien können nur eingeschränkt Anwendung finden, wenn der Unternehmenszweck nur noch in der Abwicklung der Geschäftstätigkeit besteht (BGH, Beschluss vom 20. September 1999 – 5 StR 729/98, NStZ 2000, 34, 35).
Zur Abgrenzung der Steuerung durch ein faktisches Organ von einer im Einklang mit der gesellschaftsrechtlichen Kompetenzordnung stehenden Steuerung des formellen Vertretungsorgans ist das Kriterium des Außenauftritts ebenfalls nicht unabdingbar (so auch Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 21. Aufl., § 43 Rn. 4; Strohn, DB 2011, 158, 161 f.; MüKo-GmbHG/Fleischer, 4. Aufl., § 43 Rn. 283 f. mwN). Der Bereich gesellschaftsrechtlich zulässiger Einflussnahme auf die Unternehmensleitung ist auch durch die Aneignung anderer Zuständigkeiten verlassen, die nach der gesellschaftsrechtlichen Kompetenzordnung ausschließlich dem Vertretungsorgan zugewiesen sind. Einen solchen exklusiven Zuständigkeitsbereich des Vertretungsorgans, der selbst Weisungen der Gesellschafter entzogen ist (vgl. Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rn. 5 und 12), begründen beispielsweise die Pflichten zur Bilanzierung und Buchführung (§ 41 GmbHG, § 264 Abs. 1 HGB), zum Kapitalerhalt (§ 30 GmbHG, § 34 Abs. 3 GmbHG, § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO) und zur Stellung eines Insolvenzantrags (§ 15a Abs. 1 Satz 1 InsO). Die Übernahme der Kontrolle über die Erfüllung dieser Pflichten kann die Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Kompetenzordnung daher ebenfalls belegen."
Die Entscheidung erteilt "schablonenartigem Abarbeiten" von Kriterien zu recht eine deutliche Absage. Rechtsprechung kann und darf nur im Einzelfall und auf Grundlage des Gesetzes stattfinden. Sicher, in der Praxis spielen die Erwägungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine wichtige Rolle, sind sie doch willkommene Hilfe bei der Beurteilung von Sachverhalten. Es darf jedoch nicht dazu kommen, dass keine wertende Gesamtbetrachtung mehr vorgenommen wird und die Umstände des Einzelfalls nur noch nach mathematischen Grundsätzen Berücksichtigung finden. Neben der hier gegenständlichen faktischen Geschäftsführung ist ein weiteres Beispiel das Vorgehen zur Abgrenzung von Arbeitnehmereigenschaft und Scheinselbstständigkeit.
Letztlich weitet die Entscheidung, nach hiesigem Dafürhalten, den Anwendungsbereich für die Annahme einer faktischen Geschäftsführung potentiell aus, da insbesondere das Relativieren des Erfordernisses des Außenauftritts auch in anderen Fallkonstellationen erhebliche Argumentationshilfe für die Strafverfolgung begründet.
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